Kinder und Jugendliche schwer belastet
Drastische Zunahme der Angststörungen
19.11.2021, 18:04 UhrHerr Moll, wir haben zwei schwierige Pandemie-Jahre hinter uns. Nach einer vorsichtigen Rückkehr zur Normalität im Sommer werden die Corona-Maßnahmen nun wieder verschärft. Wie sieht es bei Ihnen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie aus? Hat sich die Lage dort, nachdem die Lockdowns vorbei waren, wieder etwas entspannt?
Dr. Gunther Moll: Das Gegenteil ist leider der Fall. Wir haben mehr Fälle denn je. Ich habe so etwas seitdem ich in Erlangen bin und das ist seit 2002, nicht erlebt. Ich stelle Ihnen das mal anhand unserer Warteliste dar. Darauf stehen jetzt schon 150 Kinder und Jugendliche, die so schwer erkrankt sind, dass eine ambulante Hilfe nicht ausreicht, sondern eine Behandlung in der Tagesklinik oder auf Station nötig ist. Und die Tendenz ist steigend, da wir pro Woche etwa 20 stationäre Anmeldungen bekommen, aber nur maximal fünf stationäre Aufnahmen anbieten können. Dabei werden die Belastungen der Kinder und Jugendlichen immer schwerwiegender und hinter ihnen steht ja in der Regel auch eine Familie, die verzweifelt ist und nicht mehr weiter weiß. Eltern, die vor uns in Tränen ausbrechen und eigentlich selbst Hilfe bräuchten, weil sie völlig überlastet sind.
Heißt das, Sie müssen in Erlangen auch Kinder und Jugendliche abweisen, die suizidgefährdet sind?
Nein, hierfür gibt es immer ein Bett! In unserer Nähe ist die Kinder- und Jugend-psychiatrie Nürnberg für die Akutversorgung von selbst- und fremdgefährdeten Patienten zuständig. Die Kliniken stehen aber miteinander in Kontakt und wir helfen uns, wenn es geht, gegenseitig aus. Das ist wie in den Kinderkliniken, die ja derzeit wegen einer Welle an Viruskrankheiten auch am Limit arbeiten, ja schon lange normal. Da werden Patienten manchmal 100 Kilometer und weiter in eine andere Klinik verlegt, weil man einen Platz für ein krankes Kind benötigt.
Apropos Kinderkliniken. Stimmt es, dass die Kinderkliniken mittlerweile auch psychiatrische Fälle betreuen müssen, weil die Fachkliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie so überlastet sind?
Bedingt. Sie übernehmen Fälle, die der Psychosomatik zugeordnet werden oder der Essstörungen. Aber wie gesagt: Gerade hat keine Kinderklinik freie Kapazitäten, sie sind überfüllt und überlastet. Und selbst wenn es mehr Betten gäbe, dann fehlt trotzdem das Fachpersonal, um diese Patienten zu betreuen. Sie müssen bedenken, dass man bei psychischen Störungen von Kindern und Jugendlichen zwingend Fachpersonal zur Behandlung benötigt.
Angst ist die häufigste Störung
Welche Erkrankungen oder Störungen erleben sie im Klinikalltag denn am häufigsten?
Am häufigsten haben Kinder Angst und diese Angst ist ganz vielfältig und individuell. Sehr viele unserer jungen Patienten sind seit Beginn der Pandemie in einer Angstspirale gefangen. Sie haben Angst, weil sie nicht wissen, wie es weitergeht. Für sich privat, in der Schule und in der Familie. Viele haben Angst vor der Zukunft, weil sie nicht wissen, wie sie die Schule schaffen sollen. Die Kinder haben Angst davor, sich mit Corona anzustecken oder ihre Angehörigen, allen voran die Großeltern, zu gefährden. Sie leben in ständiger Sorge und Anspannung und spüren natürlich auch die Anspannung in ihrem direkten Umfeld, also von Seiten der Eltern, Betreuungs- oder Lehrkräfte. Auch macht es Angst, wenn die Eltern gereizt sind, sich Sorgen um ihre Arbeit machen oder ständig nur streiten. Am zweithäufigsten sind Verstimmungen und Depressionen, vor allem als Folge der fehlenden Aktivitäten und der Einsamkeit.
Neben der Angst, und Depression was ist es noch, was die Kinder und Jugendlichen belastet?
Auch die Suchterkrankungen bei Kindern und Jugendlichen haben stark zugenommen. Allen voran die Mediensucht, die Medienzeiten sind massiv gestiegen, seitdem die Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche so stark eingeschränkt worden sind. Bei 15-Jährigen liegt die Medienkonsumdauer mittlerweile bei fast 70 Stunden pro Woche. Und dann haben wir bei Mädchen noch eine massive Zunahme von Essstörungen.
2G im Hörsaal: Uni Erlangen-Nürnberg schließt ungeimpfte Studenten aus.
Gehen Sie davon aus, dass die Pandemie-Beschränkungen dazu geführt haben, dass so viele Kinder und Jugendliche unter psychischen Problemen leiden? Die Lage hatte sich aber doch im Sommer deutlich entspannt und es war doch wieder möglich, sich zu treffen.
Die Pandemie gibt es jetzt seit fast zwei Jahren und es ist noch kein Ende in Sicht. Maskenpflicht, Kontaktverbot, die Abstandsregeln, das Testen in der Schule. Diesen Kindern und Jugendlichen fehlt einfach eine Perspektive. Wann ist Corona zu Ende, wann ist wieder alles normal? Das sind die häufigsten Fragen, die wir hören, doch auf sie gibt es derzeit keine Antworten. Stattdessen setzen wir für die ungeimpften 12- bis 17-Jährigen jetzt auch noch auf 2G, das heißt, wir beschränken sie noch weiter und setzen sie unter Druck. Für Kinder und Jugendliche sollte aus Gründen einer gesunden Psyche immer 3G gelten.
Können Sie mir diesen Aspekt bitte näher erläutern?
Die Gefahr, der wir uns alle im Moment ausgesetzt fühlen, ist stark ausgeprägt und diffus. Das Virus ist unsichtbar, wir wissen nicht, ob und wann es uns oder einen nahen Verwandten oder Bekannten infiziert und wie stark. Das belastet uns Erwachsene sehr, aber Kinder und Jugendliche noch mehr. Diese Sorge wird dadurch verstärkt, dass wir für diese Situation kein Verhaltensprogramm haben, das uns sicher hilft. Vergleichen Sie es mit einer Hochwasserkatastrophe. Da wissen wir genau, wie es zu laufen hat. Wir wissen, dass das THW kommt und die Feuerwehr. Jeder weiß, was zu tun ist und kann selbst mit anpacken oder mit anderen gemeinsam, etwa eine Barriere aus Sandsäcken, errichten. So fühlen wir uns gewappnet mit der Situation umzugehen. Überhaupt bringen uns Katastrophe und Krisen immer näher zusammen. Wir überleben diese, in dem wir uns an den Händen fassen und sie gemeinsam durchstehen.
Die Krankenhaus-Ampel zeigt Rot, die Schulen bleiben aber geöffnet.
Und in der Corona-Krise passiert genau das Gegenteil, meinen Sie?
Ja, wir sind gezwungen, auf Distanz zu bleiben. 1,5 Meter Abstand, kein Händedruck, keine Umarmung und meist noch eine Maske im Gesicht. Dabei sind wir als Menschen, als soziale Wesen, darauf ausgelegt, zusammenzustehen und uns gegenseitig zu helfen. Nur wenn es Kindern körperlich, psychisch und sozial gut geht, bleiben sie in so einer Zeit gesund.
Sie sprechen von Prävention. Was gehört Ihrer Meinung nach zwingend dazu?
Auf körperlicher Ebene ist das ausreichend Schlaf, reichlich Bewegung und eine gesunde Ernährung. Auf psychischer Ebene brauchen wir ganz viel Körperkontakt und an dem fehlt es überall. Die Gründe dafür sind - auch über die Corona-Pandemie hinaus - vielfältig. Überlastung und Zeitmangel der Eltern, fehlendes Personal in Krippen, Kindergärten und Schulen. Dabei haben wir ein eigenes Sinnessystem, das auf Berührungen und Streicheln reagiert. Die Aktivierung dieses Systems ist entscheidend für unser Wohl-befinden und unsere Gesundheit, aber vor allem für die gesunde Entwicklung von Kindern. Wir wissen, dass Kinder, die zu wenig Berührung erleben, kleiner bleiben, eine geringere Intelligenz ausbilden, ein schwächeres Immunsystem besitzen und eine insgesamt geringere Lebenserwartung haben.
"Berührung ist für uns überlebenswichtig"
Was hat es mit diesem Sinnessystem auf sich? Warum ist es so besonders?
Es ist das einzige Wahrnehmungssystem in unserem Körper, das mit fortschreitendem Alter seine Leistung erhöht. Im Gegensatz etwa zu unserem Seh- oder Gehörsinn. Berührung wird also im Laufe eines Lebens als immer angenehmer und schöner empfunden. Für uns alle ist sie überlebenswichtig. Deshalb ist Einsamkeit auch lebensbedrohlicher als Diabetes, Rauchen oder Luftverschmutzung. Wird das Be-rührungssystem nicht aktiviert, bildet es sich zurück. Berührungen werden dann sogar auch nicht mehr als angenehm empfunden. Es kann zwar wieder aktiviert werden, aber das dauert Monate oder sogar Jahre. Vielen Menschen, die in den 50er, 60er und auch noch 70er Jahren geboren wurden, ist das so ergangen. Sie mussten mit wenig Berührung und Liebe groß werden.
Wie kommen Sie darauf?
In dieser Zeit war es verpönt, Kinder zu kuscheln. Man wollte sie nicht verwöhnen und verweichlichen und hat es mit Streicheleinheiten und Liebesbezeugungen nicht übertrieben. Kinder mussten gehorchen und Leistung bringen. Das wirkte sich auf die Entwicklung dieser Kinder aus, die heute als Erwachsene in unserer Gesellschaft in Entscheidungspositionen sitzen. So erkläre ich mir als Kinderpsychiater viele der politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen, die zu Lasten der Kinder gehen. Sie werden so oft nicht zum Wohle von uns Menschen, sondern eher der Gewinnmaximierung wegen getroffen.
Das heißt, Kinder brauchen mehr Streichel- und Kuscheleinheiten. Aber erzählen Sie das mal einem Jugendlichen in der Pubertät...
Streicheln statt streiten, sollte unsere Devise lauten. Da können wir Erwachsenen in unserer Paarbeziehung ein gutes Vorbild abgeben. Aber auch für Kinder und Jugendliche gilt: Es kann gar nicht zu viel gekuschelt werden. Das bringt Wohlbefinden und wirkt präventiv gegen Angst. Wenn Jugendliche zeitweise keine körperliche Nähe zulassen, dann kann man mit ihnen trotzdem einen freundlichen, harmonischen und liebevollen Umgang pflegen. Und den Moment abwarten, wo sie wieder bereit für Streicheleinheiten sind. Wir müssen uns also alle auf das Wesentliche besinnen, das ist der körperliche - und soziale Kontakt. Ohne Körperkontakt, der auch die wichtigste Grundlage von Zusammengehörigkeit und Zusammenhalt einer Gesellschaft bildet, werden nicht nur Familien, sondern unser ganzes Land auseinanderbrechen.
Mehr Betten ändern nichts an den Ursachen
Herr Professor Moll, sie haben für Erlangen die Zusage erhalten, dass sie 16 zusätzliche stationäre Plätze einrichten können. Damit haben sie dann insgesamt 88 Plätze. Wird sich das positiv für die psychisch belasteten Kinder- und Jugendlichen in der Region Nordbayern auswirken?
Ja und nein. Natürlich ist es gut, mehr Patienten aufnehmen zu können, aber eine ständige Erweiterung der Bettenkapazitäten kann nicht die Lösung des Problems sein. Wir müssen vielmehr die Gründe angehen, warum Kinder und Jugendliche erkranken und dabei auch bedenken, dass viele Störungsbilder chronifizieren, vor allem wenn keine zeitnahe, fachgerechte Behandlung erfolgen kann.
Was schlagen Sie also vor?
Wir brauchen gerade jetzt in der Corona-Pandemie dringend einen Befreiungsschlag. Der erste betrifft das Gesundheits- und Altenpflegesystem, der zweite das Betreuungs- und Schulsystem. Wir brauchen sofort eine zwanzigprozentige Lohnerhöhung für Kranken- und Altenpflegekräfte. Das größte Problem ist ja der Mangel an Pflegekräften, weswegen wir auch fast 4000 Intensivbetten weniger als vor einem Jahr zur Verfügung haben. Auch Erzieher und Erzieherinnen brauchen die gleiche Lohnerhöhung. Darüber hinaus müssen Lehrkräfte, egal welcher Schulart, die gleiche Bezahlung erhalten. Diejenigen Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, sind die entscheidende Stellschraube. Wir brauchen weiter höhere Personalschlüssel, damit sie genug Zeit für ihre Aufgaben haben. Nur so gelingt es, das Betreuungs- und Schulsystem auf einen Richtungswechsel zu schicken, der mehr auf Wertschätzung der Person als auf deren Leistung ausgelegt ist. Das ist aus meiner Sicht präventive Kinder- und Jugendpsychiatrie, die sich für uns alle auszahlt.
Inwiefern?
Was mit den Kindern beginnt, geht doch bei den Erwachsenen weiter. Die Corona-Pandemie hat auch hier zu einem massiven Anstieg der Fälle von psychischen Erkrankungen geführt. Es gab noch nie so viele Anträge auf Arbeits- und Berufsunfähigkeit durch psychische Störungen wie derzeit. Und viele der Betroffenen sind auch Eltern, doch aufgrund der eigenen Belastung können sie ihren Kindern keine ausreichende Unterstützung sein. So entsteht ein Teufelskreis, der sich immer schneller dreht. Und diesen müssen wir schnellstens wieder in eine positive Richtung bringen. Dazu gehört auch, bei den Kindern und Jugendlichen, die 2G-Regelung sofort außer Kraft zu setzen. Sie brauchen dringend soziale Kontakte, um wieder gesund zu werden und zu bleiben und nicht weitere Einschränkungen.
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